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FALLBASIERT

Leitliniengerechter Einsatz von GLP-1-Rezeptoragonisten bei Typ-2-Diabetes

Innere Medizin | Diabetologie & Endokrinologie

Nach der Lektüre dieses DFP-Literaturstudiums haben Sie einen Überblick über das antidiabetische und das kardiovaskuläre Potenzial von GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA), und Sie kennen die österreichischen und internationalen Leitlinienempfehlungen zum Einsatz von GLP-1-RA bei Typ-2-Diabetes. Zwei Fallbeispiele veranschaulichen die Anwendung der Leitlinien und typische Herausforderungen beim Einsatz von GLP-1-RA in der klinischen Praxis.

Primäre Zielgruppen: Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin bzw. Innere Medizin, die Personen mit Typ-2-Diabetes und kardiovaskulären Risikofaktoren oder manifester kardiovaskulärer Erkrankung behandeln

GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) sind Analoga des intestinalen Inkretinhormons Glucagon-like peptide 1 (GLP-1), das nach Nahrungsaufnahme glukoseabhängig die Sekretion von Insulin stimuliert und die Freisetzung von Glucagon hemmt. In therapeutischen Dosen verlangsamen GLP-1- RA außerdem in unterschiedlichem Ausmaß (je nach Wirkdauer) die Magenmotilität, dämpfen den Appetit und verstärken das Sättigungsgefühl; in der Konsequenz führt die GLP-1-RA-Therapie dadurch zu einer in vielen Fällen deutlichen Gewichtsabnahme. Von therapeutischem Interesse sind außerdem günstige Effekte auf den Blutdruck und den Fettstoffwechsel. [1]

Als erster GLP-1-RA erhielt Exenatid BID (Byetta®) 2006 die europäische Zulassung für die Behandlung von Personen mit Typ-2-Diabetes. Es folgten Liraglutid (Victoza®; 2009), Exenatid ER („extended release“; Bydureon®; 2011), Lixisenatid (Lyxumia®; 2013), Albiglutid (Eperzan®; 2014; nicht vermarktet), Dulaglutid (Trulicity®; 2014) sowie Semaglutid (Ozempic®; 2018). Alle genannten Präparate werden subkutan injiziert. Eine orale Formulierung von Semaglutid (Rybelsus®) wurde von der Europäischen Arzneimittelagentur im April 2020 zugelassen.

Aus metabolischer Sicht sind die hohe antidiabetische Wirksamkeit bei geringem Hypoglykämierisiko und die günstige Beeinflussung des Körpergewichts entscheidende Argumente für den Einsatz von GLP-1-RA [2•]. Den Durchbruch für die Substanzklasse brachten jedoch kardiovaskuläre Outcome-Studien, die für verschiedene GLP-1-RA eine signifikante Reduktion kardiovaskulärer Komplikationen ergaben (Tab. 1). [3•, 4] Wichtig ist anzumerken, dass die untersuchten Substanzen in diesen Studien zusätzlich zu einer kardiovaskulären Multimedikation nach modernem Standard verabreicht wurden. Daraus folgt, dass die Therapie mit GLP-1-RA, ähnlich wie jene mit SGLT-2-Inhibitoren (SGLT2i), einen unabhängigen Beitrag zum kardiovaskulären Risiko-Management bei Personen mit Typ-2-Diabetes leistet.

Kardiovaskuläre Benefits der GLP-1-RA

Auch wenn die bisherigen Outcome-Studien in einigen Punkten widersprüchliche Ergebnisse zeigen (Tab. 1), so lassen sich doch einige grundsätzliche Aussagen zur Therapie mit GLP-1-RA treffen:

  • Der kardiovaskuläre Benefit betrifft in erster Linie atherosklerotische Komplikationen. [1, 5•]

  • Der Einsatz bei Patienten mit Herzinsuffizienz (jedenfalls bis NYHA-Stadium III) ist sicher, der Effekt der GLP-1-Therapie auf Herzinsuffizienz-assoziierte Endpunkte aber neutral bis (in Metaanalysen) gering ausgeprägt. [4, 6, 7]

  • Der renale Nutzen basiert hauptsächlich auf der Verlangsamung der Albuminurie-Progression. [7]

  • Die Reduktion schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse („major adverse cardiovascular events“, MACE) ist HbA1c-unabhängig. [3•, 5•]

  • Patienten ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankung, aber mit hohem MACE-Risiko profitieren ebenso wie jene mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung. [4]

Bezogen auf die MACE-Reduktion verfügen Liraglutid, Semaglutid und Dulaglutid über die beste Studienevidenz. Eine statistisch abgesicherte Reduktion der kardiovaskulären und der Gesamtmortalität konnte bisher nur für Liraglutid gezeigt werden (Tab. 1, 3). [4, 6, 7]

Tab. 1: Reduktion kardiovaskulärer und renaler Komplikationen in kardiovaskulären Endpunktstudien mit GLP-1-RA, modifiziert und ergänzt nach [3•]

GLP-1-RA-Therapie bei Personen mit kardiovaskulärem Risiko

Die Ergebnisse der Outcome-Studien haben weltweit zu einem Paradigmenwechsel in den Leitlinien zum Hyperglykämie-Management bei Typ-2-Diabetes geführt [2•, 3•, 5•, 8, 9]: Neben der Blutzuckerkontrolle zur langfristigen Vermeidung vor allem von mikrovaskulären Komplikationen bildet das kardiovaskuläre Risiko-Assessment nunmehr die Grundlage für die Therapieplanung (Abb. 1): Metformin behält seine Stellung als prinzipielle Erstlinientherapie zusätzlich zu Lebensstilmaßnahmen. Bei Personen mit anamnestisch bekannter kardiovaskulärer Erkrankung oder chronischer Nierenerkrankung soll jedoch in Ergänzung zu Metformin rasch eine Therapie mit einem GLP-1-RA oder einem SGLT2i begonnen werden. [3•] Dabei wird bei Herzinsuffizienz oder chronischer Nierenerkrankung vorrangig ein SGLT2i empfohlen, bei atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD; Tab. 2) ein GLP-1-RA. [3•, 5•] Letztere Empfehlung gilt auch dann, wenn noch keine kardiovaskuläre Erkrankung manifest geworden ist, aber ein hohes Risiko für eine ASCVD vorliegt (Abb. 1), und prinzipiell unabhängig vom Ausgangs-HbA1c und vom individuellen HbA1c-Ziel. [5•]

Ist bei den genannten Risikogruppen eine weitere HbA1c-Senkung erforderlich, so soll zunächst eine Kombination von Antidiabetika mit dokumentiertem kardiovaskulärem Nutzen (GLP-1-RA + SGLT2i) zum Einsatz kommen, bei Bedarf ergänzt um Wirkstoffe mit dokumentierter kardiovaskulärer Sicherheit. [3•, 5•]


Abb. 1: Blutzuckersenkende Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 gemäß den ÖDG-Praxisleitlinien von 2019, modifiziert nach [3•]


Tab. 2: ADA/EASD Consensus Report 2019 Update, Empfehlungen zum Einsatz von GLP-1-RA [5•]


FALL 1

Männlich, 68 Jahre alt, pensionierter Beamter, verheiratet, lebt mit seiner Gattin, körperlich mäßig aktiv

Voranamnese: Diabetes mellitus Typ 2 seit 9 Jahren; weitere Diagnosen: Adipositas Grad I, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, geringgradige chronische Nierenerkrankung, koronare Herzkrankheit: Z. n. NSTEMI und perkutane Koronarintervention (2 Drug-eluting stents) vor 2 Jahren, im Anschluss Herz-Rehabilitation

Befunde bei Erstkontakt: Body-Mass-Index (BMI) 33,5 kg/m² (175 cm; 102,5 kg), seit Jahren stabil. HbA1c 8,1 % (65 mmol/mol). RR (Selbstmessung): 135/72 mmHg. LDL-Cholesterin 65 mg/dl; HDL-Cholesterin 63 mg/dl; Gesamtcholesterin 154 mg/dl; Triglyzeride 130 mg/dl. eGFR 82 ml/min/1,73 m²; Harnalbumin 24 mg/g Kreatinin

Antidiabetische Medikation bei Erstkontakt:
Metformin 1000 mg 2 x tgl.; Pioglitazon 30 mg 1 x tgl.

Weitere Medikation: Thrombo ASS 100 mg 1 x tgl., Rosuvastatin 40 mg 1 x tgl., Ezetimib 10 mg 1 x tgl., Telmisartan 40 mg 1 x tgl., Bisoprolol 5 mg 1 x tgl.

Therapeutisches Procedere

Festsetzen des individuellen HbA1c-Ziels:
zumindest < 7,5 % (58 mmol/mol), besser < 7,0 % (53 mmol/mol)

Kardiovaskuläres Risiko-Assessment:
anamnestisch bekannte kardiovaskuläre Erkrankung, keine klinischen Anzeichen einer Herzinsuffizienz, chronische Nierenerkrankung (Stadium G2A1). Daher liegt ein „sehr hohes“ kardiovaskuläres Risiko vor (Tab. 6, Seite 9).

Therapieanpassung und weiterer Verlauf:
Liraglutid 1,2 mg/Tag. HbA1c nach 3 Monaten bei 7,4 % (57 mmol/mol). Nach Steigerung der Liraglutid-Dosis auf 1,8 mg/ Tag sinkt das HbA1c nach weiteren 3 Monaten auf 7,2 % (55 mmol/mol).

Begründung, Lernpunkte

HbA1c-Ziel: Unter Berücksichtigung demografischer Faktoren kann im vorliegenden Fall von einer statistischen Lebenserwartung von 80 Jahren ausgegangen werden. Das Therapieziel der Prävention mikrovaskulärer, insbesondere renaler, Komplikationen, ist daher relevant und begründet ein HbA1c-Ziel zwischen 7,0% (53mmol/ mol) und 7,5% (58mmol/mol), sofern ohne Hypoglykämien und andere Nebenwirkungen erreichbar (Tab. 5). [2•]
Antidiabetische Therapie: Gemäß aktuellen Leitlinienempfehlungen [2•, 3•, 5•, 8] soll bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und bekannter kardiovaskulärer Erkrankung oder chronischer Nierenerkrankung die initiale Metformin-Therapie um einen GLP-1-RA oder SGLT2i mit dokumentiertem kardiovaskulärem Benefit erweitert werden. Das 2019 Update des ADA/EASD Consensus Report [5•] und ebenso die im April 2020 aktualisierten Praxisanleitungen der Österreichischen Diabetes Gesellschaft [3•] schließen auch Personen mit hohem Risiko für eine ASCVD in diese Empfehlung ein (Abb. 1, Tab. 2).
Die in den ESC Guidelines (2019) enthaltene Empfehlung, bei Personen mit ASCVD oder hohem/sehr hohem kardiovaskulärem Risiko (Tab. 6) einen GLP-1-RA und SGLT2i bereits als initiale Pharmakotherapie (d.h. vor Metformin) zum Einsatz zu bringen [9], ist durch die derzeitige Studienevidenz nicht gedeckt – die meisten Teilnehmer-innen der kardiovaskulären Outcome-Studien mit diesen Medikamenten hatten Metformin mit an Bord. Durch die Studienlage gedeckt ist die Empfehlung im ADA/EASD Consensus Report, bei Risikopersonen unabhängig vom Ist- bzw. Soll-HbA1c mit einer GLP-1-RA- oder SGLT2i-Therapie zu beginnen. [5•] Vorsichtiger, aber in der therapeutischen Konsequenz ähnlich empfehlen die ÖDG-Praxisleitlinien (Update 2020), bei kardiovaskulären Risikopersonen die initiale Metformin-Therapie „rasch“ um einen GLP-1-RA oder SGLT2i mit kardiovaskulärem Benefit zu erweitern. [3•]
Bei Personen mit Herzinsuffizienz (insbesondere mit reduzierter Auswurfleistung) oder chronischer Nierenerkrankung (spezifisch G3A2/3) soll primär ein SGLT2i und sekundär ein GLP-1-RA zum Einsatz kommen (Abb. 1). [3•, 5•] Dabei ist jedoch die in den derzeitigen Fachinformationen aller zugelassenen SGLT2i enthaltene Einschränkung zu beachten, die SGLT2i-Therapie bei einer eGFR < 60ml/min/1,73m2 (Stadium G3) nicht mehr zu beginnen. [11]
Steht, wie im vorliegenden Fall, eine ASCVD im Vordergrund oder liegen entsprechende Risikofaktoren vor, positionieren die ÖDG-Praxisleitlinien beide Substanzklassen gleichrangig als präferierte Therapieoption. [3•] Dagegen empfehlen die Autoren des ADA/EASD Consensus für Personen mit ASCVD oder entsprechendem Hochrisiko (Tab. 2) den bevorzugten Einsatz eines GLP-1-RA. Sie begründen das damit, dass GLP-1-RA auf die stärkste Studienevidenz für die Vermeidung von schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignissen (MACE; nicht tödlicher Myokardinfarkt oder Schlaganfall oder kardiovaskulär bedingter Tod) verweisen können. [5•]
Von den in Österreich verfügbaren GLP-1-RA verfügt Liraglutid aufgrund der in der LEADER-Studie gezeigten Reduktion von MACE, kardiovaskulären Todesfällen und Gesamtmortalität über die stärkste Evidenz. [9] Eine signifikante MACE-Reduktion in kardiovaskulären OutcomeStudie ist außerdem für Dulaglutid (REWIND) und Semaglutid (SUSTAIN-6) beschrieben (Tab. 1); beide sind einmal wöchentlich zu applizieren und kommen infrage, wenn die Patientin/der Patient den GLP-1-RA nicht täglich spritzen möchte.


Was wäre, wenn …

Alternative klinische Szenarien

Der Patient hat anstelle von Pioglitazon Saxagliptin an Bord.
Gemäß Leitlinien [3•, 5•] soll Saxagliptin abgesetzt und auf einen GLP-1-RA um - gestellt werden. Allerdings ist eher unwahrscheinlich, dass damit die angestrebte HbA1c-Reduktion um 0,6−1,1 %-Punkte (7−12 mmol/mol) erreicht werden kann. Als weiteres orales Antidiabetikum sollte dann ein SGLT2i mit nachgewiesenem kardiovaskulärem Benefit zum Einsatz kommen.

Der Patient hat keine klinisch manifeste koronare Herzkrankheit, sondern eine asymptomatische periphere arterielle Verschlusskrankheit mit einer Stenose der A. femoralis superficialis von > 50 %.
Keine Änderung des therapeutischen Procedere, auch nicht im Fall einer Carotisstenose.

Der Patient stellt sich mit einem HbA1c von 7,2 % (55 mmol/mol) vor.
Leitliniengemäß ändert sich dadurch nichts, weil die Therapie unabhängig vom HbA1c vorgeschlagen wird. [5•] Der GLP-1-RA wäre nach den derzeit geltenden Erstattungsregeln (Stand: Mai 2020) im Rahmen einer Einzelfallbewilligung zu beantragen.

Der Patient hat beim Erstkontakt einen BMI von 28,7 kg/m2.
Wie oben: Aus medizinischer Sicht ändert sich nichts. Die Regelerstattung ist derzeit (Stand: Mai 2020) ab einem BMI von 30 kg/m² möglich, somit wäre die Erstattung im Rahmen einer Einzelfallbewilligung zu beantragen.

Der Patient hat beim Erstkontakt eine eGFR von 60 ml/min/1,73 m².
Bei chronischer Nierenerkrankung – im ADA/EASD Consensus Report spezifiziert als eGFR 30−60 ml/min/1,73 m² oder Mikround vor allem Makroalbuminurie [5•] – kommt der SGLT2i als primäre und der GLP1-RA als sekundäre Therapieerweiterung zum Einsatz. Nach den geltenden Zulassungstexten [11] soll bei einer eGFR < 45 ml/min/ 1,73 m² müssen SGLT2i abgesetzt werden.


Tab. 3: ESC Guidelines 2019, Empfehlungen zur Therapie mit GLP-1-RA [9]

Tab. 4: Stadieneinteilung der chronischen Nierenerkrankung und Einsetzbarkeit von Antidiabetika mit dokumentiertem kardiovaskulärem Benefit [10, 11]

Tab. 5: ÖDG-Praxisanleitungen 2019, glykämische Therapieziele [2•]

Tab. 6: Kardiovaskuläres Risiko-Assessment bei Menschen mit Typ-2-Diabetes (ESC 2019) [9]

Tab. 7: HbA1c- und Gewichtsreduktion mit GLP-1-RA in Vergleichsstudien, modifiziert und ergänzt nach [12]


FALL 2

Weiblich, 56 Jahre alt, als Sekretärin tätig, wenig körperliche Aktivität

Voranamnese: Diabetes mellitus Typ 2 seit 3 Jahren; weitere Diagnosen: Adipositas Grad II, arterielle Hypertonie, kombinierte Hyperlipidämie

Befunde bei Erstkontakt: BMI 38,3 kg/m2 (161 cm; 99,2 kg), seit Jahren stabil; HbA1c 7,4 % (57 mmol/mol); RR (Selbstmessung): 128/76 mmHg; LDL-Cholesterin 84 mg/dl; HDL-Cholesterin 43 mg/dl; Gesamtcholesterin 170 mg/dl; Triglyzeride 215 mg/dl; eGFR 92 ml/min/1,73 m2; Harnalbumin 18 mg/g Kreatinin

Antidiabetische Medikation bei Erstkontakt:
Empagliflozin/Metformin 12,5 mg/1000 mg 2 x tgl.; Linagliptin 5 mg 1 x tgl.; Gliclazid 30 mg 1 x tgl.

Weitere Medikation:
Atorvastatin 10 mg 1 x tgl.; Telmisartan 40 mg 1 x tgl.; Amlodipin 10 mg 1 x tgl.

Therapeutisches Procedere

Festsetzen des individuellen HbA1c-Ziels:
< 6,5 % (48 mmol/mol)

Kardiovaskuläres Risiko-Assessment:
keine anamnestisch bekannte kardiovaskuläre Erkrankung, keine klinischen Anzeichen einer Herzinsuffizienz, keine chronische Nierenerkrankung. Gemäß ESC-Klassifikation (Tab. 6) liegt aufgrund der Diabeteserkrankung und vier weitere Risikofaktoren (Alter > 55 Jahre, Hypertonie, Dyslipidämie, Adipositas) ein „sehr hohes“ kardiovaskuläres Risiko vor.

Therapieanpassung und weiterer Verlauf:
Zur Verbesserung der Blutzuckereinstellung wird Linagliptin abgesetzt und stattdessen eine GLP-1-RA-Therapie mit Liraglutid (Zieldosis 1,8 mg/Tag) initiiert. Der Sulfonylharnstoff wird beibehalten. Lebensstilmaßnahmen zur Gewichtsreduktion werden in der Diabetesberatung besprochen. Liraglutid wird nach anfänglicher Übelkeit gut vertragen. Nach 6 Monaten liegt das HbA1c bei 6,9 % (52 mmol/ mol), das Körpergewicht bei 92,5 kg (BMI 35,7 kg/m²). Die Gewichtsreduktion wird als positiv empfunden, spielt für die subjektive Lebensqualität der Patientin aber keine wesentliche Rolle („Ich war immer schon dick“). Die Empfehlungen zu mehr körperlicher Aktivität waren nach Angaben der Patientin im Alltag schwierig umzusetzen. Mit der Patientin werden weitere Optionen der Therapieoptimierung besprochen. Eine Adipositastherapie mit Liraglutid 3 mg (von der Krankenkasse nicht erstattet) wird aus Kostengründen abgelehnt, ebenso ein Aufenthalt zur Stoffwechselrehabilitation („Ich habe im Moment dafür keine Zeit“). Um das angestrebte HbA1c-Ziel von < 6,5 % (48 mmol/mol) zu erreichen, wird die Therapieerweiterung mit einem Basalinsulin vorgeschlagen. Die Patientin reagiert ablehnend („Dann muss ich noch öfter spritzen!“). Um ihr entgegenzukommen, wird die GLP-1-RA-Therapie auf Dulaglutid 1,5 mg einmal wöchentlich umgestellt. Über die folgenden 4 Monate sinkt das HbA1c auf 6,3 % (45 mmol/mol) ab, das Körpergewicht steigt auf 95 kg (BMI 36,6 kg/ m²) an. Es liegt damit jedoch immer noch um 4 kg unter jenem vor Beginn der Therapieintensivierung. Der basale Insulinbedarf hat sich bei 18−20 IE täglich eingependelt, das initial verordnete NPH-Insulin wird nach berichteter fallweiser nächtlicher Hypoglykämie-Symptomatik auf Insulin degludec umgestellt.

Begründung, Lernpunkte

HbA1c-Ziel: Kurze Diabetesdauer, lange statistische Lebenserwartung (> 20 Jahre) und das Noch-nicht-Vorliegen manifester kardiovaskulärer Komplikationen rechtfertigen ein HbA1c-Ziel von < 6,5 % (48 mmol/ mol; Tab. 5). Ein höheres HbA1c-Ziel bis 7,0 % (53 mmol/mol) wäre durch das (gemäß ESC-Klassifikation) sehr hohe kardiovaskuläre Risiko eventuell zu argumentieren. In Betracht zu ziehen sind jedoch immer die zu erwartende lange Lebenserwartung der relativ jungen Patientin und das damit vorhandene hohe präventive Potenzial einer guten glykämischen Kontrolle.
Antidiabetische Therapie: Aufgrund des sehr hohen kardiovaskulären Risikos der Patientin (Tab. 6) sollte die antidiabetische Medikation leitliniengemäß einen SGLT2i oder GLP-1-RA beinhalten; liegt das HbA1c anschließend über dem Zielbereich, sollten beide Klassen kombiniert werden, sofern keine Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten vorliegen. [3•, 5•]
Davon unbeeinflusst hat die Patientin bereits eine orale Vierfachtherapie. Für die Zugabe eines fünften oralen Antidiabetikums gibt es keine Evidenz. Gegen Pioglitazon spricht die zu erwartende Gewichtszunahme, gegen die Steigerung der Sulfonylharnstoff- Dosis das Hypoglykämierisiko. Auch aus diesem Grund wäre ein GLP- 1-RA leitliniengemäß als „first injectable“ einzusetzen. [2•, 5•]
Nachdem GLP-1-RA und DPP-4-Inhibitor nicht kombiniert werden sollen, wurde Linagliptin abgesetzt. Der Nettoeffekt der Umstellung auf den GLP-1-RA liegt im Bereich der in solchen Fällen üblicherweise beobachteten HbA1c-Senkung (0,5−0,6 %-Punkte, 6−7 mmol/mol). Kann das HbA1c-Ziel trotz ausgereizter GLP-1-RA-Therapie nicht erreicht werden, wird eine (Basal-)Insulintherapie notwendig.
Kardiovaskuläres Risiko-Management: Neben der Optimierung der lipidsenkenden Therapie, auf die hier nicht eingegangen wird, bleibt auch die Gewichtsreduktion im therapeutischen Fokus. Aufgrund der Studienevidenz und der Zulassung für die Adipositastherapie wäre Liraglutid 3 mg aus medizinischer Sicht die erste Wahl in dieser Situation, wird von den Krankenkassen derzeit aber nicht erstattet.


Was wäre, wenn …

Alternative klinische Szenarien

Die HbA1c-Messung ergibt 8,4 % (68 mmol/mol).
Die Differenz zum Soll-HbA1c beträgt fast 2 %-Punkte (22 mmol/mol). Durch Zugabe nur eines Antidiabetikums – Ausnahme: Insulin in höherer Dosierung – ist eine entsprechende HbA1c-Reduktion nicht zu erwarten. Die Therapieerweiterung mit sowohl einem GLP-1-RA als auch einem Basalinsulin ist angezeigt.

Sie behandeln die Patientin mit Semaglutid s.c.
Der GLP-1-RA Semaglutid zur einmal wöchentlichen subkutanen Injektion ist seit Februar 2018 für die Behandlung von Typ-2-Diabetes zugelassen, wird derzeit (Stand: Mai 2020) von den Krankenkassen in Österreich aber nicht erstattet. Klinische Erfahrungen mit dem neuen GLP-1-RA sind daher begrenzt. In den Zulassungsstudien waren die HbA1c- und gewichtreduzierenden Effekte von Semaglutid signifikant stärker als jene von Liraglutid und Dulaglutid (Tab. 7): In der SUSTAIN-10-Studie [14] bei Patienten, die mit bis zu 3 oralen Antidiabetika (Metformin, Sulfonylharnstoffe, SGLT2i) vorbehandelt waren, reduzierte Semaglutid das HbA1c innerhalb von 30 Wochen durchschnittlich von 8,2 % (66 mmol/mol) auf 6,5 % (mmol/mol) – um 0,7 %-Punkte (8 mmol/mol) stärker als Liraglutid 1,2 mg. Das Körpergewicht sank in SUSTAIN-10 von 97 kg um 5,8 kg (Semaglutid) bzw. 1,9 kg (Liraglutid). Auf Basis dieser Daten kann davon ausgegangen werden, dass mit Semaglutid auch im vorliegenden Fall das angestrebte HbA1c-Ziel von < 6,5 % (48 mmol/mol) erreicht und die Zugabe von Insulin vorerst vermieden werden kann. Vorteile für die Patientin: Nur eine Injektion pro Woche und eine erwartbare deutlich stärkere Gewichtsabnahme.

Die Medikation beinhaltet bereits ein Basalinsulin (z. B. Insulin degludec, 24 IE am Abend).
Sinnvoller als das Steigern der Insulindosis wäre es, mit einem GLP-1-RA zu starten – einerseits, um die Insulindosis zu begrenzen, andererseits, um das Gewicht günstig zu beeinflussen.

Die Patientin hat einen BMI von 46 kg/m².
Keine unmittelbare Konsequenz für die antidiabetische Medikation, jedoch wäre ein bariatrisch-chirurgischer Eingriff dringend zu empfehlen. In weiterer Folge Anpassung der medikamentösen Therapie nach Bedarf.

Die Patientin hat eine Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion (z. B. 42 %).
Unabhängig von sonstigen Therapieanpassungen besteht eine Indikation für einen SGLT2i (bereits an Bord). Sollte die Herzinsuffizienz atherosklerotisch bedingt sein, wäre das HbA1c-Ziel zumindest auf <7,0% (53mmol/mol) anzuheben; in weiterer Folge könnte über eine Therapieerweiterung aus HbA1c-Gründen diskutiert werden.

Die Patientin hat eine GFR von 58 l/min/1,73 m².
Am therapeutischen Procedere ändert sich dadurch nichts. Die Patientin hat bereits, wie in den Leitlinien in diesem Fall empfohlen, einen SGLT2i an Bord. [3•, 5•] Bei insuffizienter HbA1c-Einstellung ist ein GLP-1-RA mit dokumentiertem kardiovaskulärem Benefit (Abb. 1, Tab. 1, Tab. 3) die bevorzugte Therapieerweiterung.


Self Check

Überlegen Sie:
Benötigen Sie für das kardiovaskuläre Risiko-Assessment weitere Befunde?
Welche diagnostischen Maßnahmen sind gegebenenfalls erforderlich? Welche
therapeutischen Konsequenzen können sich ergeben?

Weitere Befunde sind bei der Patientin leitliniengemäß nicht zwingend erforderlich. Mit einem Diabetes plus 3 Risikofaktoren (Hypertonie, Dyslipidämie, Adipositas) fällt sie laut ESC-Klassifikation (2019) in die Kategorie „sehr hohes Risiko“. Sollte das Lp(a) nicht bekannt sein, wäre eine einmalige Bestimmung zusätzlich sinnvoll. Ebenso sinnvoll wäre eine Sonografie der Karotiden, um eine etwaige generalisierte Plaquebelastung im Sinne einer fortgeschrittenen, subklinischen Atherosklerose zu detektieren. Eine Änderung der therapeutischen Zugänge würde sich daraus jedoch nicht ergeben. Sowohl das HbA1c-Ziel (< 6,5 %, < 48 mmol/mol) als auch das Ziel für das LDL-C (< 55 mg/dl) stehen auch vor diesen etwaigen zusätzlichen Befunden fest


Das sollten Sie lesen:

Der Autor empfiehlt folgende Referenzen als wissenschaftlich und/oder praktisch besonders relevant (im Text und in der Literaturliste markiert mit •).

[2•] Clodi M et al. Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 (Update 2019)
[3•] Österreichische Diabetes Gesellschaft. Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 – Update April/2020
Im Frühjahr 2019 hat die Österreichische Diabetes Gesellschaft zuletzt ihre „Praxisanleitungen“ publiziert. Das Online-Update 2020 zum Kapitel „Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2“ berücksichtigt relevante klinische Daten aus Outcome-Studien (REWIND, DAPA-HF, PIONEER-6), die in der Folge publiziert wurden.

[5•] Buse JB et al. 2019 update to: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD)
Seit 2006 veröffentlichen die US-amerikanische und die europäische Diabetesgesellschaft gemeinsame Consensus-Empfehlungen für das Blutzuckermanagement bei Typ-2-Diabetes. Die
vorgeschlagenen Therapiealgorithmen illustrieren die Entwicklung von einem im Wesentlichen blutzuckerzentrierten Therapieansatz hin zu einem integrierten kardiovaskulären Risiko-Management.

[1] Drucker DF. The ascending GLP-1 road from clinical safety to reduction of cardiovascular complications. Diabetes 2018;67:1710−1719 [2•] Clodi M et al. Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 (Update 2019). Wien Klin Wochenschr 2019;131(Suppl 1):S27−S38 [3•] Österreichische Diabetes Gesellschaft. Antihyperglykämische Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 – Update April/2020; https://www.oedg.at/pdf/2004-leitlinien-update.pdf [4] Marsico F et al. Effects of glucagon-like peptide-1 receptor agonists on major cardiovascular events in patients with type 2 diabetes mellitus with or without established cardiovascular disease: a meta-analysis of randomized controlled trials. Eur Heart J 2020 Feb 20 [Epub ahead of print]; doi: 10.1093/eurheartj/ ehaa082 [5•] Buse JB et al. 2019 update to: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologie 2020;63: 221−228 [6] Ghosh-Swaby OR et al. Glucose-lowering drugs or strategies, atherosclerotic cardiovascular events, and heart failure in people with or at risk of type 2 diabetes: an updated systematic review and meta-analysis of randomised cardiovascular outcome trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2020;8: 418−435 [7] Kristensen SL et al. Cardiovascular, mortality, and kidney outcomes with GLP-1 receptor agonists in patients with type 2 diabetes: a systematic review and meta-analysis of cardiovascular outcome trials. Lancet Diabetes Endocrinol 2019;7:776−785 [8] Davies MJ et al. Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018;61:2461−2498 [9] Cosentino F et al. 2019 ESC Guidelines on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases developed in collaboration with the EASD. Eur Heart J 2020;41:255−323 [10] Sourij H et al. [Diabetic kidney disease (Update 2019): Position paper of the Austrian Diabetes Association and the Austrian Society for Nephrology]. Wien Klin Wochenschr 2019; 131(Suppl 1):151−163 [11] Fachinformationen ( Stand: Mai 2020 ) [12] Chudleigh RA et al. Comparative effectiveness of long-acting GLP-1 receptor rgonists in type 2 diabetes: a short review on the emerging data. Diabetes Metab Syndr Obes 2020;13:433−438 [13] Dungan KM et al. Once-weekly dulaglutide versus once-daily liraglutide in metformin-treated patients with type 2 diabetes (AWARD-6): a randomised, open-label, phase 3, non-inferiority trial. Lancet 2014;384:1349−1357 [14] Efficacy and safety of onceweekly semaglutide 1.0 mg vs once-daily liraglutide 1.2 mg as add-on to 1−3 oral antidiabetic drugs in subjects with type 2 diabetes (SUSTAIN 10). Capehorn MS et al. Diabetes Metab 2020; 46:100−109

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